Frankfurter Rundschau
2.11.2009
Ein Grenzfall
Jahrzehntelang haben Anwohner in Brilon-Bontkirchen dafür gekämpft, zu Nordrhein-Westfalen zu gehören
Von Gesa Coordes
BRILON. „Bontkirchen ist durch uns berühmt geworden“, sagt Maria Lange und strahlt. Zur Feier des Tages reicht die 77-jährige Wirtin vom „Wiesengrund“ jedem Gast einen Bontkirchener Itter-Schnaps. Den Kirschlikör hat sie neu geordert. Schließlich ist die Itter kein unüberwindlicher Grenzfluss mehr. Der munter dahinplätschernde Bach hat auf der Höhe von Bontkirchen die Seiten gewechselt. Und mit ihm sind in der Nacht zu Sonntag aus 22 hessischen Bürgern Westfalen geworden. Sieben Häuser, ein Fußballplatz, ein Schützenhaus und ein Sägewerk gehören nun zum nordrhein-westfälischen Brilon-Bontkirchen. Dazu mussten zwei Landtage zustimmen sowie Staatsverträge geändert werden. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers flog eigens mit dem Hubschrauber ein, um die Neubürger zu begrüßen.
Das Jahrhunderte alte 550-Seelen-Dorf liegt in einem engen Tal direkt an der Grenze zwischen dem hessischen Waldeck und dem westfälischen Hochsauerland. Weil es in Bontkirchen keine Bauplätze mehr gab, hat Langes Familie schon in den 50er Jahren auf ehemaligen Weiden ihrer Vorfahren auf der falschen Seite der Itter gebaut. Die Schützenhalle stand schließlich ohnehin schon da. Doch damit gehörten die Langes formal zu Hessen, obgleich sie sich immer als Westfalen gefühlt haben. Seit 47 Jahren betreiben sie die Gastwirtschaft neben dem Fußballplatz, in der sich vor allem die Sportler des Dorfes treffen. Natürlich wird nur westfälisches Bier gezapft.
In der Kneipe sind alle Pläne für den Seitenwechsel ausgeheckt worden. Sage und schreibe neunmal haben die „Bontkirchener Hessen“ versucht, Westfalen zu werden. Dabei haben sie gar nichts gegen die Hessen: „Das sind genauso nette Menschen wie die Westfalen“, sagt Industriekauffrau Marion Vogtland. Aber die praktischen Hürden waren groß.
Eigentlich hätten ihre Kinder in Hessen eingeschult werden müssen. Doch ins 20 Kilometer entfernte Adorf fuhr noch nicht einmal ein Bus. Natürlich wollten die Kinder mit ihren Spielkameraden von der anderen Seite der Itter in die Grundschule im nur fünf Kilometer entfernten Hoppecke. „Da musste man Jahr für Jahr einen Antrag stellen, der vom Kultusministerium in Düsseldorf genehmigt werden musste“, stöhnt Maria Lange. Und auch das nur unter Vorbehalt: Sollten die hessischen Schulen einmal zu wenig Kinder haben, hätte die Umschulung nach Hessen gedroht.
Maria Lange kramt einen alten Briefumschlag heraus: „Wenn die Post vom Amt kam, war sie korrekt nach Diemelsee adressiert“, erzählt die 77-Jährige: „Das strichen sie dann in Hessen durch und schrieben Brilon drauf. Dann war die Post aber oft acht Tage unterwegs – wenn sie überhaupt ankam.“ Ihr Enkel hätte auf diese Weise einmal fast ein Vorstellungsgespräch in einem hessischen Finanzamt verpasst. Die Einladung ging zweimal mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt“ zurück. Und wahlmüde wurde die Wirtin natürlich auch: „Ich kenne da doch niemanden. Die letzten Jahre bin ich nicht mehr hingegangen.“
An ihrem Freudentag erzählen die Bontkirchener Hessen noch einmal, worüber sie sich all die Jahre geärgert haben: Einmal wurde eingebrochen in der Gastwirtschaft. Der Notruf ging automatisch nach Brilon. Die Polizei nahm den Schaden akribisch auf bis sie sich - nur der Form halber - noch den Personalausweis zeigen ließen. Da stand dann Diemelsee drauf. Die Beamten zerrissen den Bericht, die Polizei aus Korbach musste noch einmal anrücken.
Jeder in der Kneipe erzählt solche Geschichten: Wie der Krankenwagen fast zu spät gekommen wäre. Dass eine Baugenehmigung fast fünf Jahre brauchte. Und dass sie für jeden Behördengang ins 30 Kilometer entfernte Korbach fahren mussten. Nur beim Rauchverbot nutzte Maria Lange ihren Status im Niemandsland. Geraucht wurde im Wiesengrund immer.
Der scheidende Ortsvorsteher Alfred Brüne (CDU) ist heute Ehrengast. 40 Jahre lang für den Anschluss der Bontkirchener Hessen gekämpft: „Die Menschen hier werden in Westfalen geboren, getauft, gehen hier in den Kindergarten und zur Schule. Und wenn sie sterben, werden sie auf dem Friedhof beerdigt, der auch auf westfälischem Gebiet liegt“, sagt der 73-Jährige: „Nur die Steuern haben sie in Hessen bezahlt.“
Viele Male scheiterte der Herzenswunsch der Betroffenen vor allem an der Gemeinde Diemelsee. Neben den sieben Familien hat sich nämlich auch ein Sägewerk südlich der Itter angesiedelt. Die hessische Gemeinde wollte nicht auf die Gewerbesteuereinnahmen verzichten. Doch inzwischen spielt das Werk für den Diemelseer Haushalt keine Rolle mehr. Und in Diemelsee kam ein neuer Bürgermeister ans Ruder, der den Wunsch der 22 Bürger einsichtig fand: „Jeder, der dort wohnen würde, würde nach Bontkirchen wollen“, sagt Volker Becker (parteilos). Sie einigten sich auf die Zahlung von 390 000 Euro als Ausgleich für die fehlenden Schlüsselzuweisungen. „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, sagt der Waldecker Landrat Helmut Eichenlaub (CDU).
Als Rüttgers mit dem Hubschrauber auf dem Fußballplatz landet, flattert an jedem Neubürgerhaus die Bontkirchener Fahne mit der ehrwürdigen St. Vitus-Kirche. In der Herbstsonne ziehen Schützen und Musiker quer durch das größer gewordene Dorf. Der neue Landesvater begrüßt Elisabeth Becker (87) als älteste und Vanessa Schrewe (1) als jüngste Neubürgerin. Er stellt die Landflüchtigen auch gleich auf einem Plakat in eine Reihe mit berühmten Nordrhein-Westfalen wie Michael Schumacher, Karl dem Großen, Iris Berben und Johannes Rau. Und er verspricht, dass es für die Neuen keine bürokratischen Hürden mehr geben soll.
Jetzt müssen die Überläufer aber erst einmal ihre Autos ummelden. „Wir brauchen unbedingt das Kennzeichen HSK-KB“, sagt Klaus Schrewe. Seine Frau ist nämlich Hessin. Und damit hätte sie sowohl den Hochsauerlandkreis als auch Korbach im Kennzeichen. Aber auch der Vogel der Schützen wird weiterhin auf hessischem Grund fallen. Der Schießstand (noch westfälisch) steht nämlich mitten im Wald, die Vogelstange liegt bereits in Hessen. „Das haben wir absichtlich gemacht“, sagt der Diemelseer Bürgermeister Becker: „Wir wollen noch eine Verbindung behalten.“