Frankfurter Rundschau
8. April 2011

Der Schlächter von Lyon in der Fachwerkidylle

NS-Kriegsverbrecher Klaus Barbie lebte nach dem Krieg ein Jahr in Marburg / In der Stadt fast unbekannt
Von Gesa Coordes

MARBURG. Das Marburger Versteck von NS-Kriegsverbrecher Klaus Barbie sieht harmlos aus: Ein jahrhundertealtes Fachwerkhaus mitten in der Oberstadt, ein Obst- und Gemüseladen im Erdgeschoss, eine Piratenfahne in einem Fenster des Oberschosses. Ausgerechnet die Brüder Grimm haben während ihrer Marburger Zeit hier gelebt. Das Haus mit dem dekorativen Erker wird oft fotografiert. Aber nicht, weil der „Schlächter von Lyon“ hier einst lebte, der in Frankreich Kinder, Frauen, Widerstandskämpfer und Priester mit unglaublicher Grausamkeit folterte. Das ist in der Stadt fast unbekannt. Weder die Obst- und Gemüsehändlerin noch die Nachbarn wissen von dem früheren Bewohner. In der ersten Etage, vielleicht sogar in dem Zimmer mit der Piratenfahne, hat Klaus Barbie ein Jahr lang gewohnt. Hier gewährte ihm ein alter NS-Kamerad Unterschlupf.

Die Amerikaner spürten Klaus Becker, wie er sich damals nannte, bald auf. Im August 1946 – er war auf dem Weg zur Universität – wurde er auf offener Straße verhaftet. Doch der Kriegsverbrecher flüchtete mit einem Sprung aus dem offenen Jeep.

Herausgefunden hat dies der erst 24-jährige Mainzer Student Peter Hammerschmidt. Für seine Examensarbeit mit dem Titel „Der Schlächter von Lyon im Sold der USA“ hat er in bis dahin geheimen Akten des Bundesnachrichtendienstes sowie in US-Archiven über Barbie geforscht. Dabei hat er als erster Forscher klar nachgewiesen, dass der jahrzehntelang gesuchte Kriegsverbrecher 1966 vom BND angeworben wurde. Für 500 Mark im Monat lieferte Barbie ein halbes Jahr lang Informationen aus Südamerika. Zudem hat der US-amerikanische Heeresgeheimdienst CIC Barbie nach dem Krieg gedeckt. Brisantes Material, das Hammerschmidt Interviewanfragen von britischen, französischen, israelischen und bolivianischen Medien einbrachte.

Eher nebenbei lässt sich durch seine Recherchen auch belegen, dass der berüchtigte Folterer und Gestapochef von Lyon Anfang 1946 nach Marburg zog. Bekannt war dies in der Universitätsstadt bis dahin nicht. „Das höre ich zum ersten Mal“, sagt Oberbürgermeister Egon Vaupel auf die Anfrage der Frankfurter Rundschau. Da müsse die Tafel, die auf die Brüder Grimm hinweist, ergänzt werden, sagt der Sozialdemokrat. Aber auch Stadtarchivar Ulrich Hussong kannte die Geschichte bis dahin nur vom Hörensagen. „Sie gehört zum Marburger Gerüchtegut“, sagt Politikwissenschaftler Georg Fülberth von den Marburger Linken, der regelmäßig alternative Stadtrundgänge organisiert: „Beweisen konnte ich sie nie.“

Der Schlächter von Lyon war rechtzeitig vor Kriegsende untergetaucht. Warum er Anfang 1946 ausgerechnet nach Marburg zog, kann Hammerschmidt nur mutmaßen: „Dort gab es wohl ein funktionierendes SS-Netzwerk“, sagt der junge Forscher, der seine Arbeit nun als Dissertation ausbaut. Barbie ließ sich in der Barfüßerstraße 35 in der Marburger Oberstadt nieder. Der Hausbesitzer war ein überzeugter Nationalsozialist, der sich schon 1930 der NSDAP und der SA angeschlossen hatte. Dass Barbie auch an der Universität eingeschrieben war, wie er einmal in einem Interview behauptet hat, stimmt vermutlich nicht. Eine Immatrikulation lässt sich jedenfalls nicht bestätigen.

Gemeldet war Barbie in Marburg, jedoch in ganz Nordhessen unterwegs, wo er ein Untergrundnetz für ehemalige SS-Kameraden knüpfte. Unterdessen lebte seine Frau Regine zeitweise in Kaufungen und auf Gut Ellenbach im Landkreis Kassel. Ziel des logenartig organisierten Bundes war es, fähige Kameraden für zukünftige Posten in deutschen Ministerien zu empfehlen. Barbie wurde einer der führenden Köpfe der Organisation. Er war für die Herstellung gefälschter Papiere zuständig, vor allem für Wehrmachts-Entlassungsschreiben. Aber er sorgte auch für Geld. Dafür tarnte er sich gemeinsam mit zwei SS-Kameraden als Kripo-Beamter. So verkleidet stahl er einer jüdischen Baronin aus Kassel unter einem Vorwand Schmuck im Wert von 100 000 Mark. Die Ermittlungen verliefen jedoch im Sande.

Nach Hammerschmidts Recherchen war der US-Heeresgeheimdienst CIC bereits im Mai 1946 über die Aktivitäten der Untergrundorganisation um Barbie im Bilde. Die Amerikaner hatten einen Undercover-Agenten eingeschleust, der sich als Schweizer Nationalsozialist ausgegeben hatte. Als Zentren der Gruppe galten Marburg, München und Hamburg.

Nach der fehlgeschlagenen Verhaftung in Marburg gab es im Februar 1947 eine neue Razzia in Kassel. Unter dem Codenamen „Operation Selection Board“ drangen die CIC-Agenten nachts um 2 Uhr in ein Haus in der Friedrichstraße ein, in dem sich auch Barbie aufhielt. Ausgerechnet er konnte sich jedoch erneut retten – diesmal durch einen Sprung aus dem Badezimmerfenster. Insgesamt wurden bei der Operation 57 ehemalige NS-Funktionäre an verschiedenen Orten festgenommen.

„Ich gehe davon aus, dass man Barbie bewusst hat laufen lassen“, sagt Hammerschmidt. Trotzdem wurde ihm das Pflaster in Nord- und Mittelhessen wohl zu heiß. Barbie war spätestens ab April 1947 in Memmingen, wo er als Informant vom US-Heeresgeheimdienst CIC angeworben wurde, um im beginnenden Kalten Krieg vor Kommunisten zu warnen. Damit war er tabu. Der CIC wollte ihn nach Hammerschmidts Recherchen nicht an die Franzosen ausliefern - möglicherweise, weil er zu viele Interna kannte. 1951, als der Druck zu groß wurde, ließen sie ihn über die „Rattenlinie“ nach Südamerika verschwinden.


Infobox
Klaus Barbie

Der 1913 als Sohn eines Lehrerehepaars in Bad Godesberg geborene Barbie trat 1934 der SS bei, wo er eine steile Karriere machte. Ab November 1942 war er Chef der Gestapo in Lyon. Dort folterte und ermordete er Mitglieder der Résistance. Im Hotel Terminus quälte er katholische Priester mit Elektroschocks und hängte sie an den Füßen auf. Nackte Frauen wurden bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt und missbraucht. Sein prominentestes Opfer war Résistance-Chef Jean Moulin, den er vermutlich höchstpersönlich zu Tode folterte. 44 jüdische Kinder aus einem Waisenhaus ließ er ins Vernichtungslager nach Auschwitz deportieren. Insgesamt wurde er für die Deportation von 842 Menschen verantwortlich gemacht. Nach dem Krieg tauchte er erst in Deutschland, dann in Bolivien unter, wo er sich am Aufbau der politischen Polizei beteiligte. Erst Anfang der 70er Jahre kam Nazijägerin Beate Klarsfeld auf seine Spur. 1983 wurde er nach Frankreich ausgeliefert, wo er zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. 1991 starb Barbie in französischer Haft an Krebs. gec