Frankfurter Rundschau
5.9.2009

Aufgetaucht aus 2000 Jahre altem Schlamm

Das mittelhessische Waldgirmes schreibt europäische Kulturgeschichte
Von Gesa Coordes

Der Sensationsfundort sieht aus wie ein Baustellentümpel. Seit die Wasserpumpe nicht mehr läuft, verbirgt sich der Grund des 2000 Jahre alten Brunnens wieder unter einer braunen Lehmbrühe. „Da unten standen wir, als wir das Medaillon des Pferdegeschirrs herausragen sahen“, erzählt Archäologin Gabriele Rasbach. Selbst die Ein-Euro-Jobber, die gespannt am Rand des Kraters standen, schlossen schon Wetten ab: Die meisten tippten darauf, dass nun der Kopf des Augustus aus dem 2000 Jahre Schlamm auftauchen würde. Es dauerte noch bis zum Abend, bis die Grabungsleiter Gabriele Rasbach und Armin Becker den Sensationsfund in den Händen hielten: Ein lebensgroßer, filigran gearbeiteter römischer Pferdekopf aus vergoldeter Bronze – so bedeutend, wie die Himmelsscheibe von Nebra und der Keltenfürst vom Glauberg. „Das hatten wir nie erwartet“, sagt Becker.

„Das war ein erhabener Moment“ sagt die Marburger Studentin der Antike, Tamara Barnusch. Sie steht bereits seit Tagen an der Schlämmanlage oberhalb von der Grube. Und es wird noch Wochen dauern, bis der Aushub aus dem Brunnen von Lehm und Erde befreit ist: 750 weiße Plastikeimer sowie mehrere schwarze Wannen warten auf die Wasserschläuche über dem feinen Sieb. Antike Hölzer, Tierknochen und Zähne kommen zum Vorschein. Mit lehmverschmierten Händen holt ihre Kollegin Romina Ebenhöch eine 2000 Jahre alte Scherbe aus dem Sieb: „Das Beste ist, das man immer wieder etwas findet“, sagt die 21-Jährige.

Archäologiestudent Thomas Wollmann hat vielleicht einen Kirschkern entdeckt. Nur mit Pinsel und Sieb ausgerüstet, macht er die Feinarbeiten. Der Kirschkern wäre ein weiterer Beleg für die Bedeutung der Anlage, die Rom dem kleinen Ort zwischen der Autobahn 45 und Waldgirmes einst gab. Kirschen waren damals selbst in Rom ein importiertes Luxusgut. Im Lahntal waren sie unbekannt.

Dass der mittelhessische Ort einst von Kaiser Augustus als Hauptstadt einer neuen germanischen Provinz geplant war, wollen die Grabungsleiter nicht sagen. Doch dass die Stadt „hier irgendwo im Nirgendwo“ weit mehr als ein römisches Militärlager war, ist für Rasbach klar: „Waldgirmes ist der erste Nachweis für eine zivile römische Stadt rechts des Rheins“, sagt Rasbach. Tacitus und Cassius Dio hatten die Stadtgründungen unter Kaiser Augustus zwar erwähnt, es wurde aber nie eine gefunden.

Bis zu 500 Menschen haben auf dem 7,7 Hektar großen Areal bei Wetzlar gelebt. Schmiede, Töpfer, Zimmerleute, Köche, Viehzüchter und Gastwirte ließen sich 3 vor Christus im Lahntal nieder. Dass die Römer von diesem Ort aus auch ihre Umgebung oder sogar eine ganze Provinz regieren wollten, lässt die Entdeckung des Forums – ein repräsentatives Verwaltungsgebäude – vermuten: „Allein der Bau war eine Machtdemonstration“, sagt Rasbach: „Hier könnte der Stadtrat regiert haben.“ Besuchern kann sie das 2200 Quadratmeter große Areal inzwischen auch zeigen. Seine Form wurde nachgemauert. Im Innenhof standen fünf Sockel aus lothringischem Muschelkalkstein. Der mittlere ist seit den Römertagen im Mai von einer nachempfundenen Reiterstatue besetzt. Wie der Pferdekopf aussah, konnte Künstler Heinrich Janke freilich nur ahnen.

Rund um das Forum bauten die Römer Wohngebäude und Werkstätten. Die Archäologen fanden Tischgeschirr aus der Champagne und aus Rom, Schmuck, Münzen und zwei Meter große Fässer, die nun in großen Wasserbecken schwimmen. Die Amphoren aus Spanien und Italien waren vermutlich einst mit Öl, Oliven und Wein gefüllt. Die römische Gartenkultur hielt mit Anispflanzen Einzug. „Das zeigt, mit welchem Aufwand Rom diesen Platz betrieben hat“, sagt Grabungsleiter Armin Becker. Mauern aus Holz und Erde, viele Türme und zwei Wassergräben schützten die neue Stadt.

Doch die Menschen mussten schon bald flüchten. Wahrscheinlich 10 nach Christus, spätestens aber 16 nach Christus gaben sie die Römerstadt auf. Der Grund war vermutlich die vernichtende Niederlage bei der Schlacht im Teutoburger Wald, als germanische Krieger eine ganze römische Armee aufrieben.

Dann lag die Stadt Jahrhunderte lang brach. Erst 771 wurde Waldgirmes gegründet, ein unauffälliger Ort mit heute 3300 Einwohnern. Auch Gerda Weller (52) stammt aus Waldgirmes. Und als ehrenamtliche Mitarbeiterin der Denkmalpflege stapft sie schon seit Jahrzehnten über die frisch gepflügten Äcker des Lahntals. 1989 entdeckte sie die ersten römischen Tonscherben auf dem Gelände. Welche wertvollen Funde sich in der Erde verbergen, ahnte sie damals nicht. Zunächst machte sie der Gemeinde einen Strich durch die Rechnung. Die wollte nämlich ursprünglich ein Gewerbegebiet auf dem Gelände bauen – und schreibt nun europäische Kulturgeschichte. „Frau Weller ist schuld“, sagt Gabriele Rasdorf lachend. „Das war eine Gemeinschaftsleistung“, sagt Gerda Weller selbst.