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24.9.2007

Ein Altersheim für Kühe

Von Gesa Coordes

SELLNROD. Das Fell um Trudes Augen ist grau. Sie steht erstaunlich schief auf ihren mageren Beinen. Das knochige Hinterteil schert mächtig aus, wenn sie vorsichtig über die Weide schwankt. Mit ihren 18 Jahren ist Trude alt. Viel älter, als Kühe heutzutage werden. In der Regel kommen sie bereits mit sechs oder sieben Jahren zum Schlachter, obgleich sie durchaus 25 Jahre leben könnten. Doch wenn ihre Milchleistung nachlässt, haben sie nur noch Schlachtwert.

Trude hat mehrfach Glück gehabt. Weil sie die Lieblingskuh der Bäuerin war, blieb sie länger am Leben. Und als sie im Gießener Schlachthof stand, wurde sie von Natascha Hirschmann gerettet. Sie konnte kaum stehen, als sie in das Kuhaltersheim gebracht wurde, das die angehende Tierärztin im Mücker Ortsteil Sellnrod im Vogelsberg betreibt.

Die bundesweit einmalige „Rettungsinsel für ausgediente Kühe“ ist ein alter Traum von Christa Blanke, der Gründerin der Tierschutzorganisation „Animals Angels“: „Wir waren es leid, immer nur mit Filmen und Berichten das Leid der Milchkühe zu dokumentieren“, sagt sie. Die „Animals Angels“ kümmern sich nämlich vor allem um Tiertransporte. Mit dem durch Spenden finanzierten Kuhaltersheim solle ein „Symbol gegen die Ausbeutung der Kühe“ geschaffen werden.

Acht Kühe stehen zur Zeit auf den Weiden rund um Sellnrod, bis zu 30 könnten es einmal werden. Viele von ihnen haben fast ihr gesamtes Leben in Ställen verbracht. Im Sommer kommen jetzt nur noch die kranken Bewohner in die Auffangstation auf dem 200 Jahre alten Hof von Natascha Hirschmann. So muss Christiane (18) intensiv gepflegt werden. Die Schwarz-Weiße war einst eine Turbokuh mit einer Milchleistung von mehr als 100 000 Litern. Das brachte ihr zwar einen Besuch vom Bürgermeister und einen Kranz um den Hals. Doch als sie lahmte, sollte sie trotzdem ausgemustert werden. In Sellnrod hat sie nach vielen Schwangerschaften das erste Kälbchen geboren, das sie behalten durfte. „Sie war die stolzeste Mutter weit und breit“, erzählt Hirschmann. Allerdings musste Kälbchen Lotta zunächst mit dem Fläschchen aufgezogen werden, weil Christianes Euter infolge der hohen Milchproduktion nur eine Handbreit über dem Boden hängt. Lotta fand die Milchquelle erst nach einem Sturz. Auch Christianes Knochen haben durch die Turboleistung so gelitten, dass es in der Hüfte knackt, wenn sie aufsteht.

Gesund ist hingegen Jenny, die erst fünf Jahre alt ist. Doch ihre Milchproduktion war so miserabel, dass sie der Bauer nicht behalten wollte. In Sellnrod ist sie die beste Freundin von Christiane. Gut erholt hat sich auch die Holsteiner Milchkuh Angelika Muh (15). Der Bauer hatte während einer Geburt versucht, das Kalb mit einem Strick aus ihrem Leib herauszuzerren und dabei den Geburtskanal verletzt. Auch nach der Operation in der Tierklinik verlor sie weiter an Gewicht. Angelika war so mager, dass sie noch nicht einmal mehr Schlachtwert hatte. Heute lässt sich das kaum noch erahnen. „Sie ist der lebende Beweis, dass Kühe gesund und munter leben könnten, würden sie mit Respekt und Zuwendung behandelt“, sagt Christa Blanke.

Natürlich gehe es nicht nur darum, ein paar Kühe zu retten, erklärt Hirschmann: „Aber wir wollen zeigen, dass Kühe es wert sind, länger zu leben.“ Es handele sich um sehr sympathische, gutmütige Tiere, die aber „bis aufs Äußerste ausgezehrt“ würden. „Sie sind nur in Form von Milch und Käse präsent“, kritisiert Hirschmann. Die angehende Tierärztin hofft sowohl bei Bauern als auch bei Konsumenten auf ein Umdenken. Doch auch für die Verbraucher seien Kühe bislang wohl nicht niedlich genug. Ihr Leid interessiere nicht.

Im Dorf erntet sie bislang eher freundliches Kopfschütteln. Die Bauern seien keine Feinde, betont die 38-Jährige: „Sie halten mich nur für ein bisschen verrückt.“ Natascha Hirschmann lässt es auch nicht bei dem Kuhaltersheim bewenden. Privaten Unterschlupf gefunden hat ein selbst nach Hirschmanns Einschätzung „unglaublich hässliches“ Hängebauchschwein namens Wutz. Dazu kommen Pferde, Ponys, Esel und Hühner.

Freilich sterben auch die Kuh-Pensionäre nicht alle eines natürlichen Tods. Wenn sie zu sehr leiden, werden sie eingeschläfert.