Frankfurter Rundschau
15.12.2006

Der blinde Passagier im Schulbus

Vor 22 Jahren flüchtete Bernd Bergmann mit Marburger Gymnasiasten aus der DDR

Kurz vor Weihnachten 1984 schmuggelten Marburger Schüler den DDR-Flüchtling Bernd Bergmann bei einer Klassenfahrt in den Westen. Heute lebt er als Versicherungsmakler in Amöneburg bei Marburg. Die Gymnasiasten wären fast von der Schule geflogen.

AMÖNEBURG. Einmal in der Woche fährt er die Route seiner Flucht. Auf dem Weg zu seinem Erfurter Büro passiert er die Stationen, die der feuerrote Bus mit den Friedensaufklebern vor 22 Jahren nahm.

Am 18. Dezember hatte Bernd Bergmann – damals ein junger Automechaniker – die Schülerinnen kennengelernt. „Ich habe sie angesprochen, weil sie mit einem Marburger Bus fuhren“, sagt er. Seine Mutter stammt aus Goßfelden bei Marburg, wo er seine ersten Lebensjahre verbracht hat. Doch die Familie zog zum Vater nach Thüringen.

Abends im Studentenclub erzählt der damals 25-Jährige den Gymnasiastinnen von seiner Mutter und der Westverwandtschaft, die ihn jeden Sommer mit begehrten Mitbringseln wie Schokolade, Bananen, Ananas oder Jeans verwöhnt. Zu diesem Zeitpunkt hat er seinen Job als Autoschlosser schon verloren, weil er einen Ausreiseantrag gestellt hat. Als Glöckner und Hausmeister arbeitet er bei der Stadtmission. Ständig wird er von der Stasi verfolgt. Heikle Themen bespricht er mit seiner Freundin Birgit nur auf Spaziergängen, weil ihm klar ist, dass die gemeinsame Wohnung verwanzt ist. Dass er damit nicht übertreibt, zeigen meterweise Stasi-Akten, die er nach der Wende findet.

Die Mädchen – sie stammen aus vermögenden Familien und werden im privaten Marburger Landschulheim Steinmühle unterrichtet – wollen dem sympathischen jungen Mann helfen. Gemeinsam hecken sie einen Fluchtplan aus. Sorgen macht sich Bernd Bergmann vor allem wegen der Wärmebildkameras an der Grenze. Deswegen will er sich in der Nähe des Motorraums verstecken. 13 Schüler – etwa ein Viertel der Reisenden – werden eingeweiht. Lehrer und Reiseleiter wissen von nichts.

Als Bernd Bergmann am Morgen des 20. Dezember mit seinem Trabbi auf die Wartburg fährt, ist es kalt und regnerisch. Die Besichtigung der Burg ist der letzte Programmpunkt für die Elftklässler. Bergmann fürchtet, in einem Mann mit Jägerhut und Dackel einen Stasi-Mann zu erkennen: „Aber der war wirklich ein Jäger.“ Verdeckt von mehreren Schülern, steigt er heimlich in den hinteren Teil des roten Busses. Wie besprochen, klettert er in den Spalt hinter der letzten Sitzbank und der Heckscheibe. Die Schülerinnen drapieren Jacken und Mäntel über ihm. „Ich war wie in Trance“, sagt Bernd Bergmann über die wenigen Kilometer bis zum damals sichersten DDR-Grenzübergang Herleshausen. Die Volkspolizisten kontrollieren die Pässe und schauen jedem Schüler ins Gesicht. Hinter die letzte Sitzbank schauen sie nicht. Ein Grenzer klopft mit einem Hammer das Blech des Busses ab. Als er von unten gegen das Versteck von Bernd Bergmann schlägt, drückt dieser sich nach oben, damit das Klopfen hohl klingt: „Seitdem weiß ich, was Angst ist“, sagt der Flüchtling.

Wenige Kilometer weiter übernimmt ein Schüler das Mikrophon des Busses: „Ich möchte Euch die freudige Mitteilung machen, dass wir einen Freund mitgebracht haben.“ Als Bergmann aus seinem Versteck klettert, weinen Lehrer und Schüler. Eine Flasche Krimsekt wird geköpft. In Marburg angekommen, telegraphiert er seiner Freundin: „Frohe Weihnachten“. Das war der Code für die gelungene Flucht.

Doch die 13 Schüler werden bei ihrer Rückkehr nicht nur als Helden gefeiert. Sie sollen vom Gymnasium fliegen, weil sie mit ihrer leichtsinnigen Fluchthilfe die ganze Gruppe in Gefahr gebracht haben. Schließlich müssen sie 16 Stunden Sozialarbeit ableisten. Warum das so war, kann Bernd Bergmann bis heute nicht begreifen. Er lernt Politiker wie Franz-Josef Strauß, Friedrich Bohl, Norbert Blüm und Gerhard Stoltenberg kennen, die sich für die jugendlichen Fluchthelfer einsetzen. Bis heute ist er den elf Mädchen und den zwei Jungen dankbar, mit denen er noch regelmäßig Kontakt hat.

Bergmann muss noch zwei Jahre warten, bis er seine damalige Freundin und heutige Ehefrau Birgit in die Arme nehmen kann. Sie muss unzählige Verhöre über sich ergehen lassen und verliert ihren Job als Lehrerin, bis ihrem Ausreiseantrag statt gegeben wird.

Inzwischen hat sich Bergmann als Versicherungsvertreter in Amöneburg selbstständig gemacht. „Ich wollte schon immer mein eigener Chef sein“, sagt er. Gemeinsam mit seiner Frau hat er sich in den vergangenen 22 Jahren eine solide Existenz aufgebaut.

Als die Mauer fällt, kann er es kaum glauben. Aus Angst vor einer möglichen Festnahme – schließlich war er ein in Abwesenheit verurteilter Republikflüchtling – traut er sich erst Weihnachten 1989 zu seinen Eltern nach Erfurt.

Am 20. Dezember wird er wieder auf seine erfolgreiche Flucht anstoßen. „Ich habe viel Glück gehabt“, sagt er. Gesa Coordes